08. September 2017
18 bis 22 Uhr
Text: Angelica Horn, siehe unten.
Doing & Undoing. Motherhood, 4´40´´ ( loop ), 2014, von Cristiana de Marchi:
Im alten Griechenland war Pharmakos das rituelle Opfer eines Sündenbocks, bestehend aus der Vertreibung eines Individuums, des Pharmakos, mit dem Ziel, eine kollektive Reinigung herbeizuführen. Deshalb ist Pharmakos sowohl der Ausgestoßene als auch der Retter. "Motherhood" erforscht die Dichotomie der Ausgrenzung / Einbeziehung, Opfer / Erlösung durch eine direkte Gegenüberstellung: das Opfer und der Henker, der Zeuge und die Mutter, und zeigt so alle möglichen emotionalen Varianten für alle beteiligten Rollen auf.
Partly Departed, 12´50´´( loop ), 2015, by Susanne Schwieter:
In einem probeähnlichen Setting treffen die Bewegungsabläufe zweier Tänzer auf einen installativen Zusammenhang und strukturieren Raum und Zeit in einem loop. Anfang und Ende sind nicht genau auszumachen. Zwischen Form und Anti-Form wechselnd, werden hier feste Strukturen und fragile gestische Renderings in einem sorgfältig choreografierten Ensemble vereint. Die Reorganisation von Zeit öffnet Fragen nach Wirklichkeit und Wahrnehmung. Choreografie definiert hier Gegenwart als unsicheren Bezugspunkt: die flüchtige Bewegung eines Vorgangs schafft permanente Erinnerung und ist folgerichtige Konsequenz eines fluiden Status.
Handrail ( the In Betweens ), 125 x 95 x 95 cm, lackierter Stahl, Holz, 2017, von Susanne Schwieter:
Alltagsobjekte verwandeln sich in Artefakte, die ihre ursprüngliche Funktion zwar nicht leugnen, diese aber nicht mehr erfüllen sollen.
In der Serie "the In Betweens" weist die Beziehung von Bild und Objekt jeweils auf Bewegungen hin und untersucht die Realität zwischen Verkörperung und Entkörperung sowie die Trennung zwischen Bildraum und realem Raum.
Cristiana de Marchi ist eine italienisch / libanesisch bildende Künstlerin und Autorin, die in Beirut und Dubai lebt und arbeitet. Sie erhielt ihren MFA mit Auszeichnung in Archäologie an der Universität Turin, nachdem sie ebenda mit Bachelor with Honours in Geisteswissenschaften abgeschlossen hatte.
Cristiana de Marchis Arbeitsweise erforscht das soziale und politische Terrain von Erinnerung, von Orten der Vergangenheit und Gegenwart, von Identität und umstrittenen Grenzen bis zu Utensilien der zeitgenössischen Nationalität. Mit Textilien, Stickereien, Filmen und Aufführungen stößt sie Prozesse an, die auf die Währungen der Macht aufmerksam machen, indem sie eben diese Strukturen erforschen. Durch das Extrahieren der Zeichen und Symbole, hinterfragt sie die Bedingungen der Systeme, die sie konstituieren. Sie legt die Machtstrukturen offen, die in Flaggen und ihren Farben, Pässen, Orten, Statistiken, soziologischen Modellen, Worten und Briefen steckt. Mit dem Fokus auf oft übersehene Details wird darauf hingewiesen, wie die scheinbar harmlosen Aktionen und Details des Alltags das Wesen größerer Strukturierungssysteme sind.
Cristiana de Marchi schreibt über ihre Arbeit:
In meiner eigenen Wahrnehmung kommunizieren die Videos, obwohl unterschiedlich in ihren visuellen Lösungen, formal auf einer tieferen Ebene. In der Tat ist das theatrale Element in beiden vorherrschend, wobei die jeweilige Inszenierung unterschiedlich sind und dennoch jeweils eine Voraussetzung dafür, dass daraus die Möglichkeit einer Handlung erst zu entstehen scheint. Das trifft sicherlich auf Doing & Undoing Motherhood zu, wo die Bedeutung der Handlung im Widerspruch zu der Umgebung steht, in der es inszeniert wird, und in dem greifbaren Drama, das dieser Kontext trägt.
In beiden Videos ist die Kontrolle über Körper und Körpersprache ein Mittel, um die Bedeutung von der Handlung selbst zu abstrahieren und die Aufmerksamkeit auf die Ebene der Kommunikation zu lenken.
Ein weiterer ein Aspekt zum Thema Wiederholung oder Iteration, wie ich es lieber nenne, liegt in seinem zyklischen Auftreten. Dies ist in der Tat ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit, vor allem in Bezug auf die "Doing & Undoing"-Serie, wo die beharrliche Wiederholung der gleichen Handlungen sowohl auf die Grausamkeit der Szene als auch auf das Potenzial ihres Gegenstücks hinweist. Die Wiederholung bricht die enge Struktur auf, die durch die Handlung repräsentiert wird, und bietet ihr so einen Raum für ein Ausweichen, unabhängig von der unerträglichen Wirklichkeit, sowie darüber hinaus.
Susanne Schwieter, geb. 1971 in Basel, Schweiz, studierte an der Kunstakademie Düsseldorf von 1992 bis 97 bei Kneidl und Rinke, wo sie ihre Ausbildung mit Akademiebrief und Meisterschüler beendete. Nach langjähriger Arbeit als Bühnenbildnerin u.a. am Schauspielhäusern Frankfurt, Zürich, Basel, Bochum, Wien lebt und arbeitet sie nun in Berlin als bildende Künstlerin.
Als größerer Komplex der Arbeit von Susanne Schwieter zählt die fortwährende Beschäftigung mit Transformation und dem unzuverlässigen Konzept über die Gegenwart. Oft markiert Malerei dabei einen Anfang. Dies hat eine Reihe mit dem Thema Aggregatzustände hervorgebracht, die sich mit ablaufenden Prozessen sowie der Dimension von Zeit und deren Darstellung in Form und Geste befasst.
Susanne Schwieter schreibt über ihre Arbeiten:
Für mich ist die Konfrontation von Doing & Undoing Motherhood und und Partly departed sehr interessant, da die Arbeiten drei Themen untersuchen, die im Grunde Themen jeder Performance sind, hier jedoch werden sie auf einer tieferen Ebene verhandelt - Inszenierung, Körper und Wiederholung (oder Iteration).
In Partly Departed scheint die Inszenierung und das theatrale Moment zwar vorzuherrschen, ist aber irrelevant und austauschbar. Die Choreographie könnte überall gezeigt werden, in diesem Sinne gibt es weder Bühne noch Bühnenbild, sie sucht den neutralen white cube. Es wird die Bewegung selbst als Kunstwerk untersucht - die sich neben anderen ( eher statischen) Arbeiten als einer der ihren einreiht.
Der Körper erscheint in Partly Departed als etwas, das etwas produziert - er erzeugt eine Bewegung, Geräusche, vielleicht einen Geruch. Er produziert Zeit und damit eine Wirklichkeit mit Vergangenheit und Erinnerung. In diesem Sinne lenkt Performance den Fokus sehr auf Handlung, auf die Vorstellungskraft : also auf Dinge, die keine Objekte sind, sondern nur flüchtige Momente zwischen Körper und Raum, zwischen Tänzer und Publikum, zwischen Bewegung und Kunstwerken. Hier finden wir einen Unterschied zu Doing & Undoing Motherhood: Beide Arbeiten beschäftigen sich mit Menschen und Körpern, einmal in einer narrativen Weise, einmal in einer abstrakteren Weise, die mit dem Verlust von Inhalt spielt.
Das Thema der Wiederholung wird in Partly departed als exzessives Versuchen, als Sehnsucht nach Entgrenzung verwendet - da sehe ich eine enge Verbindung zwischen den Arbeiten.
Intimität/Intimacy
Christiana de Marchi und Susanne Schwieter in der Ausstellungsreihe „ “
von Angelica Horn
Eine weiß gekleidete Frau sitzt in einem Schlachthaus und stickt. Scheinbar unberührt von den Geschehnissen um sie herum stickt sie auf einem roten Grund mit weißem Faden. Im Laufe des Videos entsteht das Wort „Motherhood“. Die stille in sich Versenktheit der stickenden Person, es handelt sich um die Künstlerin, steht in denkbar krassestem Kontrast zu den Geräuschen und Tätigkeiten des Schlachtens von Schafen. Die Männer gehen bedächtig und zielführend ihrer Tätigkeit nach, scheinbar gänzlich unbeeindruckt von der stickenden Frau. Die Welt zerfällt in zwei Sphären. Der Betrachter beginnt nachzudenken. Beim ersten Sehen mag sich die Konzentration auf die stickende Frau und das entstehende Wort richten, beim zweiten Sehen auf die Männer und ihr Handwerk. Die Dichotomie löst sich nicht auf.
Mit „Mutterschaft“ ist Heiligstes und Reinstes angesprochen. Christiana da Marchi schreibt in ihrem Text zu der Arbeit von 2014: „Motherhood explores the dichotomy of exclusion/inclusion, sacrifice/salvation, through a juxtaposition of presences: the victim and the executioner, the witness and the mother, to symbolize all emotional attachments to all the involved roles.“ Und sie geht auf antike Opferrituale ein: „In ancient Greece Pharmakos was the ritualistic sacrifice of a scapegoat, consisting in the expulsion of an individual, the Pharmakos, in order to gain a collective purification. Therefore, the Pharmakos is at once the outcast and the rescuer.“
Real zu sehen ist in dem in einem Loop dauernder Hintereinanderreihung gezeigten Film von 4.40 Minuten Länge ist die Intimität der stickenden Frau – eine solche Tätigkeit würde man sich für gewöhnlich in einem häuslichen Ambiente vorstellen – und die ebenfalls weiß gekleideten Männer, die in aller Ruhe und Bedächtigkeit ihrem Geschäft nachgehen: ein Schaf wird herbeigebracht, das Messer wird gewetzt, ein Schaf wird abgespritzt, ein Schaf wird aufgehängt, tote Schafe hängen an einem Rondell, Fell wird mit dem Messer gelöst. Rot ist der Stoff, das Blut an den Schafen, das Blut in Schlieren in dem fließenden Wasser am Boden. Wir wissen nicht, ob es sich um eine Mutter oder werdende Mutter handelt, nicht, ob es um ein Opfer oder einen Sündenbock geht.
Der Betrachter hat die Spannung zwischen stickender Intimität und geschäftigem Schlachten auszuhalten. Am Ende wird das Tuch hochgehalten, auf dem nun vollständig „motherhood“ in Weiß auf Rot steht. Und plötzlich schießen Bedeutungsebenen zueinander, von denen man doch nichts wissen will. In diesem Video, dem Stück eines Theaters, in dem es keine Katharsis gibt, werden Extreme aufgerufen. Eine Lösung gibt es nicht.
Ganz anders ist das Befinden bei dem Video von Susanne Schwieter. Hier ist Intimität die Behutsamkeit im Detail, hier erklingen sanfte Töne. In „Partly Departed“ (12.50 min, Loop, 2015) sehen wir zwei Tänzer, eine junge Frau und ein junger Mann. Zunächst sehen wir ihr Gesicht mit der Schrift des ersten Titelwortes, dann seines mit dem zweiten Wort. Dann ist seine Hand, die sich öffnet, mit ausgestrecktem Arm an der Wand zu sehen. Links erscheint ein länglicher Ausschnitt eines künstlerischen Bildes. In der Folge ergibt sich eine Aneinanderreihung von kleinen, oft sehr kurzen Handlungssequenzen, die sich in ihrem Bedeutungs- und Ausdrucksgehalt erst im wiederholten Sehen erschließen und öffnen.
Wir achten auf die Bewegung der Körper, die Konzentration in der Bewegung im Raum, an der Wand, am Boden. Noch die liegende Person ist in sich konzentriert, ein Gebilde. Ein schwarzer Stuhl steht da, eine auf dem Boden liegende schmale Latte vor dem rechten vorderen Stuhlbein mit einem schwarzen Abschnitt des sonst unbehandelten Materials macht diesen Stuhl zu einem Objekt, zu einem Ding künstlerischer Setzung. Das immer wieder teilweise oder ganz zu sehende Bild hat als ein eben solches Objekt zu gelten. Selbst der Heizkörper mag so wirken, die Tür und anderes mehr. Wir sind gleichsam ganz im Raum. Die Kamera schwenkt allmählich.
Die Frau liegt auf dem Bauch, die Hände aufgestützt wie in einer Position der Liegestütze, das Gesicht, mit geschlossenen Augen, angestrengt. Einmal, bei einer Drehung im Raum, glauben wir, sie ganz zu erkennen. Am Mann immer wieder der Arm, die Hand, auch baumelnd, dann mit feiner Fingerbewegung – sein Drehen an der Wand, im Raum, die Raumecke, die Tür. Die Zeit wird zerlegt. „Endings and beginnings are not clearly defined.“ „The choreography transforms the present moment into an unreliable point of reference, with a volatile movement creating a permanent memory.“ Man erfährt immer mehr von dem Raum, den Menschen, den Dingen, ohne es wirklich zu begreifen, zu verstehen.
Es ist schließlich der Raum selbst, der zum Gegenstand des Kunstwerks wird, und die Zeit, die in ihm vergeht. Es ist die Unentrinnbarkeit verrinnender Zeit, gefüllt mit Bewegung, mit Zartgefühl, intimem Selbstbezug, Ding- und Körpersein, ein Geschehen ohne Historie, ein Zweck in sich selbst. Zeit ist im Raum. Und der Betrachter, der auf den flachen Bildschirm schaut, wird an sich selbst erinnert, an das eigene Leben. Indem Susanne Schwieter ihre Videoinstallation mit zwei realen künstlerischen Objekten aus der Serie „In Betweens“ von 2017 in dieser künstlerischen Gegenüberstellung der Reihe „ “ kombiniert, macht sie auf den Objektcharakter des Kunstwerks aufmerksam. Die gewählte Form ist die Aussage in sich, Bewegung und Ding.
Diese Ausstellung, für einen Abend in der Lange Straße 31 zu sehen und von Carolin Kropff auf den Weg gebracht, gibt viel zu denken – und viel zu sehen.
Die Philosophin Angelica Horn lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.
© Angelica Horn, Frankfurt am Main 2017
Mit freundlicher Unterstützung des Kulturamt Frankfurt.
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