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Cristiana de Marchi & Günter Zehetner

Am 14. Juni 2022 präsentierte der STUDIOSPACE Lange Straße 31 Werke von Cristiana de Marchi (Dubai, Beirut, Wien) und Günter Zehetner (Frankfurt, Wien). 

Kommunikation und Korrespondenz

Christiana de Marchi und Günter Zehetner - von Angelica Horn finden Sie weiter unten.

Diese Ausstellung brachte Cristiana de Marchi und Günter Zehetner zusammen - zwei Künstler, die schreiben, oder anders gesagt, zwei Schriftsteller, die mit Licht zeichnen - und reflektiert nicht nur über die vielschichtige Natur des kreativen Ausdrucks, sondern auch über das Potenzial, Korrespondenzen herzustellen und aufrechtzuerhalten, die den Teilnehmern selbst offenbarende Momente bieten.
Indem sie sowohl an sich selbst als auch an den anderen schreiben, offenbaren de Marchi und Zehetner eine leidenschaftliche Verbundenheit mit ihren jeweiligen Praktiken, während sie gleichzeitig die potenziellen Überschneidungen von Themen und Formen der Manifestation ihrer persönlichen Universen erkunden. Die ursprüngliche Korrespondenz wird zum Vorwand, da sie eine tiefere Bedeutung des Substantivs offenbart: Nicht nur die Worte, die in schriftlicher Form ausgetauscht werden, schaffen eine Korrespondenz, sondern vor allem der Gleichklang zwischen den beiden, da sie die Intimität ihrer täglichen Übung wagen und offenlegen.

„Fadesse klingt vertraut in seiner portugiesischen Trostlosigkeit, in der Morbidität eines Verlustes, den man geschehen lässt. 
Nicht eine Ordnung, nicht eine Richtung, nicht die Sauberkeit einer aufgezwungenen Struktur, sondern das Entgleiten, das Abgleiten eines nicht so gut gehüteten Geheimnisses, eines vergangenen Wunsches. [...]
Ich weiß, dass ich an jenem Tag, dem 25. November, geschrieben habe. Ich schreibe immer an ungeraden Tagen, oder ich tue so, als ob. Gedanken für ungerade Tage, Tagebücher der Ungereimtheit, Notizen wie Depeschen, Kriegstagebücher eines Eigensinns, der den Posten hält, entlang einer vergessenen Grenze."

Cristiana de Marchi, aus einem Brief an Günter Zehetner, 3. Dezember 2020

„Schreibst du regelmäßig Gedichte? Jeden Tag oder einige in einer Woche? Ich mache jeden Tag Zeichnungen, und die sind irgendwie wie Gedichte, sie stellen innere Zustände dar, wie deine Gedichte. [...] Wie ich schon sagte, ich mache sie jeden Tag, sie sind einfach, roh und irgendwie Art Brut. Sie kommen direkt heraus, es dauert nicht länger als 2 bis 5 Minuten, sie zu vollenden, und sie bekommen alle einen Titel. Sie sind irgendwie grob, roh, aber auch zart und oft sexuell konnotiert. Ich würde sie gerne gemeinsam an der Wand sehen. Sie haben beide eine innere Welt in sich, beide haben ihre eigene, sehr persönliche Syntax. Der Gebrauch von Sprache und Zeichnung folgt ihren eigenen, persönlichen Gesetzmäßigkeiten und nicht den üblichen Regeln." . (Günter Zehetner)
Günter Zehetner, aus einem Brief an Cristiana de Marchi, 21. Januar 2021

Über die Werke:
Cristiana de Marchi, Thoughts for odd days, 2018-fortlaufend.
Auszüge aus Cristiana de Marchis Thoughts for odd days begleiten die Präsentation einer Auswahl von Kurzvideos, die auf fiktiven Korrespondenzen basieren und so den Begriff der Dualität erweitern und eine voyeuristische Komponente in die Intimität eines Austauschs von Eindrücken, Erinnerungen und existenziellen Angoissen einführen.

Günter Zehetner, Zeichnungen, 2020-2021. Papier, Tusche und Farbstift auf Papier, cm 21 x 29,7.
Mit einer Auswahl von Zehetners täglichen Zeichnungen, die alle bewusst in einem extrem kurzen Zeitrahmen entstanden sind, reflektiert der Künstler und Schriftsteller über Parallelen zwischen den beiden Praktiken und stellt seine Zeichnungen fast als visuelle Übersetzungen des automatischen Schreibens vor.

Cristiana de Marchi ist eine italienisch / libanesisch bildende Künstlerin und Autorin, die in Beirut und Dubai lebt und arbeitet.

Ihre Arbeit befasst sich mit dem sozialen und politische Terrain von Erinnerung, von Orten der Vergangenheit und Gegenwart, von Identität und umstrittenen Grenzen bis zu Utensilien der gegenwärtigen Nationalität. Mit Textilien, Stickereien, Filmen und Aufführungen stößt  sie Denkprozesse an, die auf die Machtstrukturen aufmerksam machen, indem sie eben diese Strukturen untersucht. Durch das Extrahieren der Zeichen und Symbole, hinterfragt sie die Bedingungen der Systeme, die sie konstituieren. Sie legt die Machtstrukturen offen, die in Flaggen und ihren Farben, Pässen, Orten, Statistiken, soziologischen Modellen, Worten und Briefen steckt. Mit dem Fokus auf oft übersehene Details wird darauf hingewiesen, wie die scheinbar harmlosen Aktionen und Details des Alltags das Wesen größerer Strukturierungssysteme sind.

Günter Zehetner (1965)

Filmemacher, davon ausgehend Fotografie, Zeichnung, vorhandenes Material, Sprache.
Das Super-8-Werk in der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums in Wien und da gezeigt im Zyklus „was ist Film“.
Teilnehmend als geladener Künstler an Symposien die sich mit vorgefundenen Material „Amateurfilm“ beschäftigen.
Sowie Vorführung der unbearbeiteten Amateurfilme (gefundene Filme) im Kunstkontext, dort bezeichnet er sich als Autor der Filme, insofern, dass er sich als „retrograder“ Auftraggeber sieht. Ein Film -eigentlicher Autor unbekannt - wird dem Publikum überantwortet, als „Perfect Film“ in Anlehnung an den gleichlautenden Film von Ken Jacobs.
19 Stunden Film „Franz Biberkopf“. Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin, gelesen von Zehetner, unvorbereitet, an verschiedenen Orten, mit sich allein und der Kamera, jeweils eine Stunde. Bereits als Installation gezeigt in der Liebfrauenkirche, haart er noch der Aufführung, in einem Stück im unsichtbaren Kino des Österreichischen Filmmuseums in Wien.
Ein Jahr (2017/2018) jeden Tag auf der gleichen Bank am Main kostet er den Kosmos, verleiht ihm 3 Hauben oder speit ihm ins Gesicht, woraufhin ihn derselbige mit dem Wellenspiel in Licht, Farbe und Formenunendlichkeit tröstet und ihm so seine Ekstasefähigkeit  immer wieder neu vor Augen führt.
Die seit 2020 entstandenen Zeichnungen zeigen den Wunsch, eine in einzelnen Blättern täglich entstandene Erzählung, durch stetige Wiederholung der vorkommenden Elemente, und einer sich ergebenden Anhäufung von Blättern, in ein komplexes sich gegenseitig kommentierendes und vervollständigendes, bildsprachliches Werk zu verwandeln.    
Zehetner verweigert sich einer Zuordnung. Seine Heimat ist und bleibt der Film, von dem er ausgeht, um in anderen Terrains zu agieren. Mit dem Credo „Alles ist Werk“, schöpft er direkt aus seinem Liebesleben, dem Leben, sowie aus der Liebe zum Leben selbst. 

(…) Verliebter Narr,                                                                                

wenn sich die Zeiger treffen,                                                                                  

machst du mit Albaster                                                                                  

der Gedanken                                                                                   

den weiten Weg zum Frauenleib,                                                                              

bis dich dein Blut                                                                                  

erjagt,                                                                            

mit abgekühlten Schatten.

                                                                               

aus Libellenflügel von Lejzer Ajchenrand

Kommunikation und Korrespondenz

Christiana de Marchi und Günter Zehetner

von Angelica Horn

 

Kommunikation ist das Gespür dafür, wie es dem anderen gerade geht und wie es einem selbst gerade geht. Dieses Spüren ist grundlegend – bevor es um ein Einfühlen und Verstehen, ein Mitteilen und ein Sagen geht. So verstandene Kommunikation ist ein grundsätzlich Menschliches und gelungene Kommunikation kann als Menschlichkeit überhaupt angesehen werden.  In seiner „Kritik der Urteilskraft“ schreibt Immanuel Kant, dass „Humanität einerseits das allgemeine T e i l n e h m u n g s g e f ü h l, andererseits das Vermögen, sich innigst und allgemein mitteilen zu können, bedeutet; welche Eigenschaften zusammen verbunden die der Menschheit angemessene Glückseligkeit ausmachen“. („Kritik der ästhetischen Urteilskraft“, § 60, B 262)

 

Christiana de Marchi hat in einem Video (Maraya Art Centre 2022) ihre künstlerische Haltung einmal dahingehend bestimmt, dass Kunst nicht Informationen mitteile, sondern das Angebot an den Betrachter mache, sich selbst zu bestimmen, und die Frage stelle, „Wo stehst du?“. Das ist eine stille Frage, eine Frage in aller Stille, die die Künstlerin mit einer ruhigen und stillen Eindringlichkeit in all ihrem Arbeiten immer wieder und kontinuierlich stellt – auch an sich selbst: „Wo stehst du?“ So ist diese Position einer Menschlichkeit kein direkter, aber doch ein offener Einspruch gegen Gewalt, die zumeist nicht lange nachfragt, sondern ausgeübt wird.

 

Der Künstler steht in einer wechselseitigen (!) Mitteilung mit seiner Zeit (seiner historischen Gegenwart und deren Ereignisse), in der er einerseits Impulse und Strukturen von dieser aufnimmt und andererseits die eigene Haltung und den eigenen künstlerischen Ausdruck zu dieser eigenen Zeit in Beziehung setzt. Kommunikation ist insofern immer auch Korrespondenz, ein Entsprechungs- und Erwiderungsverhältnis, in dem die ganze Bannbreite der menschlichen Möglichkeiten aufscheint und in der jeweiligen Wahl realisiert ist.

 

Die Ausstellung von Christiana de Marchi und Günter Zehetner in der von Carolin Kropff kuratierten Ausstellungsreihe „ “ im Studiospace der Frankfurter Lange Straße 31 musste bedingt durch die Corona-Zeit und durch die Explosion in Beirut, von deren Auswirkungen auch die Wohnung von Christiana de Marchi betroffen war, um zwei Jahre verschoben werden. Die beiden Künstler nahmen eine Korrespondenz auf E-Mail-Ebene miteinander auf, verständigten sich über Kunst und etwa über Gedichte und deren Übersetzung.

 

Spüren, wie es dem anderen geht, Spüren, wie es einem selbst geht, das ist eine Form des Wissens. Und diese Wissensform erlaubt es einem selbst zu erkennen, wo man selbst steht und damit auch, was oder wer man selbst denn ist. Spüren ist Ausdruck von Empfindungsfähigkeit, nicht eigentlich aber eine bestimmte Empfindung, sondern ein Wechselspiel, eine Kommunikation oder Korrespondenz von Empfindungen. Solches innigst und allgemein mitzuteilen, gelingt beiden Künstlern dieser Ausstellung, und es gelingt in ihrer Ausstellung und im Gespräch mit dem Betrachter.

 

Von de Marchi sehen wir an der rechten Wand der Ausstellungsraumes 14 Briefe an sich selbst und eine Sequenz kurzer Videos, die auf einem kleineren Bildschirm laufen. Die Briefe, „Thoughts of odd days“ (seit 2018, fortlaufend), sind eine Anordnung von je einem Foto, einem kurzen Text, einer Datumsangabe/Titel auf Din A4 – hier gezeigt auf Transparentpapier auf der Wand und mit den Fotos in Schwarzweiß. Noch ohne dass der Betrachter etwas gelesen, etwas genau wahrgenommen oder identifiziert hat, mag sich in ihm ein Gefühl intimer Betroffenheit einstellen, ein Gefühl, das sich in der Beschäftigung mit diesen Gedanken klärt und erklärt. Der Gedanke ist das gesprochene oder geschriebene Wort und das Bild, zugleich ist er das jeweilige Ganze, was sich letztlich nicht aussagen lässt. Das Ganze hat einen poetischen Klang, der nachdenklich macht. Das Ganze ist bildnerisch-visuell und geistig-immateriell. Die Ordnung und Anordnung ist formal und friedlich. Kunst stellt auch den Ort einer Selbstvergewisserung dar im Kontext jeweiliger Realität. Das Blatt vom 23.06.2020 mit dem neben dem Foto aufgeschriebene Titel „Christiana de Marchi, Blue (Hands), 2022“ zeigt den Text: „… the effort to become language …“ und ein Foto mit zwei noch oben gestreckten Händen, in einem der Videos ist der Text mit einem anderen Foto, einem Fensterausblick verbunden. Wie kommt der Mensch zur Sprache und zum Sprechen? In dem Video „Doing & Undoing“ (2013), sehen wir stickende Hände, die Buchstaben sticken, die zusammen das Wort „borders“ ergeben, und eben jene Hände lösen die Stickerei, Fadenstich für Fadenstich wieder auf. Lassen sich Grenzen wieder aufheben? Alles geschieht hier mit großer Bedachtsamkeit und Genauigkeit.

 

Zarter und leichter muten die 91 Zeichnungen (2020-2021) Günter Zehetners an, die sich auf der linken Wand des Ausstellungsraumes in einem Block präsentiert befinden. Auch hier ist die künstlerische Arbeit und Haltung eine spezifische Art des Selbstumgangs des Menschen mit sich selbst, eine reale Selbstbezüglichkeit, die sich im Spurentext des Kunstwerkes zeigt und die diese in sich enthält. Kommunikation ist der Spürsinn, worum es dem anderen gerade geht. Dieses Zeichnen ist selbst ein Spüren und Selbsterspüren.  Über einen bestimmten, aber nicht vorher festgelegten oder intendierten Zeitraum fertigte der Künstler jeden Abend eine Zeichnung (Din A4) an, das Material lag bereit und, wenn der echte Zeitpunkt gekommen war, wurde schnell gezeichnet, in zwei bis fünf Minuten eine Zeichnung verfertigt, wobei allmählich auch Farben hinzutraten. Jede Zeichnung ist mit einem Titel versehen; eine Liste der Titel der ausgestellten Arbeiten befindet sich an der Stirnwand des Ausstellungsraumes und der Betrachter mag sich seine Gedanken machen, ob er eine assoziative oder gar bezeichnende Beziehung zu den jeweiligen Blättern herstellen kann. Das Zeichnen erfolgte schnell, nicht nach einem bestimmten Plan. Motive traten mit der Zeit auf, die sich dann wiederholten, wie zum Beispiel die Schnecke oder die Blume. Es geht um Sexualität, zweifelsohne, weniger jedoch in einem direkten Sinne, als um Zartheit und Zärtlichkeit, um Innenwelten. Wir müssen uns hier keine Gedanken um Triebschicksale und Ähnliches machen.  Es geht um menschliche Begegnung, sich Kennenlernen, es geht um Ereignisse privaten Lebens. So direkt und unmittelbar die Herangehensweise ist, so herantastend und spielerisch ist sie zugleich. Es geht auch hier um Menschlichkeit. Die Handschrift ist linear und umrissartig. Auf Blatt 42 de Zeichnungsblocks etwa stehen sich zwei Silhouetten gegenüber und sehen und lächeln sich an. Auf anderen Blättern scheint eine ganze Geschichte erzählt zu werden, ohne dass sie einfach nacherzählt werden könnten. Die Auffassung eines Geschehens erfolgt genau und nicht-eingreifend, wie dies auch von den Filmen Günter Zehetners bekannt ist. So wird der Blick auf das Einzelne gelenkt.

 

Immanuel Kant spricht vom Geschmack, also von dem menschlichen Beurteilungsvermögen in Bezug auf Hervorbringungen der Kunst, als von dem „allgemeinen Menschensinn“. Das Kunstwerk selbst könne dabei ein Muster abgeben und einen Begriff, „von der glücklichen Vereinigung des gesetzlichen Zwanges der höchsten Kultur“, worunter die Freiheit des Menschen und die Verpflichtung zur Freiheit zu verstehen ist, „mit der Kraft und Richtigkeit der ihren eigenen Wert fühlenden freien Natur“. (A.a.O., B 263). Ist die Freiheit nach Kant die konstante und unabänderliche Forderung menschlicher Vernunft, so die Natur des Menschen dasjenige, was sich in den Zeitaltern des Menschen ändert. Die Kunst, die ihre Zeit oder etwas von ihrer Zeit zum Ausdruck bringt, schafft in ihrem Gelingen eine solche „glückliche Vereinigung“.

 

Christiana de Marchi und Günter Zehetner korrespondieren mit ihren Arbeiten in dieser Ausstellung miteinander und entwickeln eine Kommunikation. Oder umgekehrt, sie kommunizieren und entwickeln eine Korrespondenz zweier verschiedener Haltungen, denen es doch (auch) um eine gemeinsame Sache geht. Zwischen den beiden Positionen befindet sich der Ausstellungsbesucher, der mit Blick auf beide Präsentationen sich selbst fragen kann: „Und wo stehe ich?“

 

 

                                                                                   Angelica Horn

                                                                                   © Frankfurt am Main 2022

Mit freundlicher Unterstützung des Kulturamt Frankfurt.

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