Beobachtungen über Wolle und Filze
„Filz bedeckt den Körper und schützt die Seele.“
Mongolisches Sprichwort
Als malatsion mich zur Zusammenarbeit am Kunstprojekt New Skin For A Landscape einlud, sah ich ein undeutliches Bild von Filzen vor mir und nicht, wie sie vorschlug, von recycelten Stoffen. Da wir mit Menschen zusammen gestalten wollen, ist die Vermittlung der Art und Weise im Umgang mit dem Material ein wichtiger Schritt zum Gelingen des Vorhabens. So dachte ich pragmatisch an den Schwierigkeitsgrad der ent-sprechenden Fertigkeiten und das Filzen erschien mir einfacher und schneller zugänglich zu sein als das Arbeiten mit Stoffen. Das sagten mir meine eigene Erfahrung und meine Beobachtungen in Schulen, in meinen Workshops und der Quilting Bee.
Was ich von der Rohwolle bis zu dem Zeitpunkt wusste, hatte ich von meiner Spinnlehrerin Abby Franquemont gelernt. Für Abby ist das Spinnen mit der Hand ein menschliches Bedürfnis, und das Weitergeben dieser uralten Transformationsweise von fundamentaler Bedeutung. Es ist kein Zufall, dass die Menschheit mit der Erfindung flexibler und stabiler Strukturen wie Schnüren und Geweben nicht nur Nützliches, sondern auch Bedeutungsvolles herstellen konnte. Netze zum Fischfang wurden fortan geknüpft und Holzstücke mit gehauenen Steinen zu Äxten verbunden. Die beeindruckenden Fransenröcke erblickten das Licht der Welt. Sie dienten Frauen in ihren fruchtbaren Jahren als symbolisches Zeichen und weniger als Schutz vor Kälte oder zur Bedeckung der Scham.
Rohwolle in die Hand zu nehmen, ihren Faseraufbau zu spüren, die Anwesenheit der Natur, der Schafe zu erahnen und mich einer uralten Tradition anzuvertrauen, war für mich ein tiefes und anrührendes Erlebnis und ist nun eine konstante Freude in meinem Leben. Es ist erstaunlich wenig nötig, um lose Fasern in einen stabilen Fadenverbund zu verwandeln und doch ist es erstaunlich komplex zur gleichen Zeit. Die Hand braucht dazu sehr viel Erfahrung. Ein harmonisches Gleichgewicht ist erforderlich zwischen dem, was die Faser macht, und dem Twist, den die Hand die Spindel machen lässt. Auf diese Weise lassen sich unendliche Variationen an Garnen herstellen, mit denen wir wiederum unendlich komplexe gewebte, gewirkte oder geklöppelte Strukturen schaffen können, um nur einige zu nennen.
Je einfacher die Werkzeuge sind, desto mehr Fertigkeiten werden verlangt. Grundsätzlich reichen ein Stöckchen und etwas Rohwolle aus, um einen Faden zu spinnen.
Noch einfacher ist der Prozess des Filzens.
„Mit vereinten Händen, für vereintes Glück,
machen wir den Filz.
Er werde stark wie die Wurzeln des Himmels,
beständig wie die Steppe.
Möge dieser Filz unsere Familie schützen,
wie die Steppe uns beschützt.“
Gebet während des Filzens der Nomaden der Mongolei.
Die bekanntesten Filztraditionen kommen von nomadischen Völkern der Mongolei, aus Kirgisien, China, Russland und der Türkei. Das zentralasiatische Steppenland wurde im 4. Jahrhundert v. Chr. von Chinesen das Filzland genannt. Emblematische Beispiele der Filzkultur stellen die Jurten dar, die eigentlich „ger“ bei den Mongolen oder „öj“ bei den Kirgisen heißen. Ihre Außenhaut besteht aus dicken weißen Filzmatten, die vor Feuchtigkeit, Wind und Kälte schützen und zudem feuerresistent sind. Auch das Innenleben der Jurten ist mit Filzteppichen ausgestattet. Sie sind bunt und gemustert. Diese Filzmatten und Teppiche bilden zusammen eine lang erprobte Schutzhaut für ein nomadisches Leben und sind schön anzusehen. Um ein großes Filzstück zu schaffen, arbeiten viele Personen etwa eine Woche zusammen. Oft helfen Pferde oder Kamele bei der körperlich schweren Arbeit des Verfilzens und Walkens.
Filz - im Mittelhochdeutschen „vilz“, im Englischen „felt“ - ist westgermanischen Ursprungs und bedeutet „gestampfte Masse“. Letztere beschreibt den Filzvorgang und das Resultat ganz
anschaulich. Die Wollfasern werden durch Reibung eng und stabil miteinander verbunden. Dazu benötigen wir beim Nassfilzen Wasser, Essig oder Seife, Kraft, Geduld, d. h. Zeit, und bei großen Stücken die Zusammenarbeit mit anderen. Für seine Herstellung sind keine großen Gerätschaften wie Webstühle oder ein Dach über dem Kopf nötig.
Wolle erzählt auch etwas über die Landschaftsgestaltung und Landnutzung der Textilindustrie. Ab etwa 6.000 v. Chr. wurde Schafwolle für die Textilherstellung genutzt. Nach der Erfindung synthetischer Fasern und wegen ihrer zeit- und arbeitsaufwendigen Herstellungsweise ging ihre Nutzung drastisch zurück. Rassen, die für die Qualität der Wollfasern bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezüchtet worden waren, wurden vernachlässigt oder starben fast aus. Die Züchtung konzentriert sich heute auf Fleisch- und Milchschafe. Letztere sollen idealerweise kaum noch Fell tragen, so wie es bei der französischen Rasse Lacaune der Fall ist. In Deutschland gilt Rohwolle als Abfall. Immerhin werden Schafe zur Landschaftspflege eingesetzt, und Gärtnereien entdecken die Vorteile von Wolle als Dünger. Das Slow-Fashion-Movement und Autorinnen wie Sofi Thanhauser in ihrem Buch Worn – A History of Clothing sehen im Wiederbeleben der Nutzung nachhaltiger Fasern und der dazugehörigen Herstellungsmethoden einen möglichen Ausweg aus der Fast-Fashion Problematik.
malatsion hat dankbarerweise meinem Vorschlag vertraut, Rohwolle als künstlerisches Material zu wählen und so haben wir uns gemeinsam auf den Weg gemacht, Rohwolle von Schafen aus der Gegend besorgt und begonnen, verschiedene Anweisungen zum Waschen zu testen. Wir konnten beobachten, wie die Wollmasse sich in einen Schwamm verwandelt, sich mit Wasser vollsaugt und das kostbare Nass beim Spülvorgang von einem Kübel zum anderen transportiert. Es ist eine wunderbare Analogie zur Schwammlandschaft; schließlich soll die Wolle symbolisch die neue Haut der Landschaft in dem geplanten Kunstwerk werden!
Sich selbst in der Materialhandhabung beim Filzen zu erleben, die Wollfasern in der Hand zu spüren, sie zu riechen und in die Wiederholungen der Handlungen beim Zupfen und Filzen mit einem Gefühl von Flow einzutauchen, kann - wie bei einer Meditation - ein sich Öffnen und zur Ruhe kommen bewirken. Tun wir dies in Gemeinschaft mit anderen, schaffen und kultivieren wir einen kreativen Raum, in dem wir uns Zeit und Vertrautheit mit uns selbst, mit anderen und den weltlichen Dingen um uns herum schenken. In diesem Raum ist alles möglich!
Wenn wir uns der Natur und ihren Erscheinungsformen aufmerksam zuwenden, ihren Gehalt individuell nachempfinden und ihn mit unseren Händen begreifen, können wir einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten und unser Verhältnis zur Natur neu beleben. Gemeinsam mit anderen können wir mit vielen kleinen Bewegungen eine entspannte und nachhaltige Zukunft gestalten.
21. Oktober 2024
Der Text entstand anläßlich der Projektarbeit des Studiospace mit der Frankfurter Künstlerin malatsion - New Skin For A Landscape - und ist in der gleichnamigen Publikation veröffentlicht worden.
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